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Die singende Operationsassistentin

Ralph Schröder, 11.04.2019
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Selina Baumgartner ist als Technische Operationsassistentin tätig. Wer sie konzentriert am OP-Instrumententisch hantieren sieht, wird überwältigt sein, wenn er zum ersten Mal ihre Stimmgewalt hört.

Die 25-jährige aus Meisterschwanden am Hallwilersee stammende Selina Baumgartner ist seit drei Jahren als Technische Operationsassistentin im KSA tätig. Sie ist Sängerin bei der professionellen Party- und Cover-Band Down Town Group, singt bei der Swing-Band Orchester Flughafen Zürich klassische Gesangsduette mit dem Schweiz-Kubaner Tenor Bernardo Revuelta in Begleitung des Zürcher Streichorchesters «More than Classic», ist bereits mit dem bekannten Schweizer Soul- und Pop-Musiker Marc Sway aufgetreten und – last but not least – auch noch Lead-Sängerin in der Rock-Band ihres Vaters. Was soll man da sagen?

Bei so einem musikalischen Palmares fragt man sich natürlich schon, warum Selina nach wie vor bei uns in den Operationssälen anzutreffen ist, wo doch so viele Konzertsäle für sie offen stehen. «Die Musik ist meine Leidenschaft», sagt Selina, «und ich opfere dafür sehr viel Zeit, aber vollprofessionell möchte ich das nicht machen.» Auch deshalb nicht, weil sie die Leidenschaft für die Musik und ihren Gesang nicht verlieren möchte. Ausserdem liebt sie ihren Beruf als Technische Operationsassistentin (TOA)  hier im KSA viel zu sehr.

Selina Baumgartner ist erst 25-jährig. Dennoch hat sie bereits zwei Berufsausbildungen hinter sich. Wie in der Musik scheint sie auch beruflich mit einem Engagement nicht zufrieden zu sein. Bevor sie nämlich die dreijährige Ausbildung zur TOA in Angriff nahm, hatte sie bereits eine Lehre zur Dentalassistentin abgeschlossen. Dass sie sich zunächst für diese Ausbildung entschlossen hat, sei eher zufällig gewesen, sagt sie, obwohl sie schon in Richtung Medizin gehen wollte. Weil es gleich bei der ersten Bewerbung, die sie überhaupt abgeschickt hatte, geklappt hat und die Stimmung beim Schnuppern gut gewesen sei, habe sie zugesagt. Schon während der Lehre aber hat sie dann gemerkt, dass sie als Dentalassistentin zu wenig gefordert werden würde. Ein Lehrabbruch kam jedoch nicht in Frage. Was man anfängt, das führt man auch zu Ende, diesen Leitsatz ihrer Eltern hat sie früh verinnerlicht, bis heute. Dass einem das weit bringen kann und bis auf die grossen Bühnen, haben wir schon gehört.

Zunächst aber startete Selina mit 18 ihre Ausbildung zur TOA an der Höheren Fachschule für Gesundheit und Soziales in Aarau. Ihre praktische Ausbildung hat sie jedoch im Spital Wolhusen (LUKS) genossen, obwohl sie das Eignungspraktikum hier im KSA gemacht hat und da schon wusste, dass sie irgendwann mal in einem grossen Spital arbeiten wollte. Doch die Wahl lag damals nicht bei ihr. So gings also beruflich zunächst ins Luzernische, was gleichbedeutend war mit einer ersten, sanften Abnabelung von ihrer Familie. Dass dies als Jüngste von insgesamt sieben Kindern nicht ganz leicht war, kann man sich vielleicht vorstellen. Mit drei älteren Brüdern und drei älteren Schwestern ist Selina in einem grossen Haus in Meisterschwanden aufgewachsen und zusätzlich noch mit zahlreichen weiteren Pflegekindern, die ihre Eltern immer mal wieder aufgenommen haben. Ein grosses, ja ein sehr grosses Herz hätten ihre Eltern, erzählt Selina stolz. Das alternativ lebende Lehrerehepaar mit hohem sozialem Engagement lebte und lebt die christliche Nächstenliebe konsequent, auch wenn dies manchmal zu chaotischen Verhältnissen zuhause führte, wie Selina mit einem Lächeln zu berichten weiss. Die Ferienreisen mit dem Zug seien oft mehr als nur abenteuerlich gewesen – immer mal wieder sei der eine oder die andere verloren gegangen – und die Organisation der jährlichen Skiferien in der Lenk seien vergleichbar gewesen mit der Organisation eines ganzen Schulskilagers. Nun, als Lehrerelternpaar hatten sie ja damit Erfahrung. Langweilig wurde es bei den Baumgartners zu Hause aber auf keinen Fall. «Es war halt alles ein wenig anders bei uns», sagt Selina. Auch zum Beispiel, dass alle ihre Geschwister in der Sekundar- oder Bezirksschule für eine Zeit entweder beim Vater oder bei der Mutter zur Schule gegangen sind, Selina bei ihrer Mutter zum Beispiel.

Ich singe, seit ich denken kann.

Dass es zu Hause auch und vor allem musikalisch zu und her ging, wundert wohl niemanden. Das gemeinsame Musizieren hat alle miteinander verbunden, so weit sich Selina zurückerinnern kann. Alle haben irgendein Instrument gelernt und der Vater spielte als Keyboarder in einer Band. «Wir hätten gut und gerne die Schweizer Kelly Family› geben können, so wie wir unterwegs waren», meint Selina mit einem grossen Schmunzeln.

Das Gesangstalent Selinas hat ihre Mutter schon früh festgehalten. In ihrem Tagebuch, das sie für jedes Kind geführt hat, steht, dass Selina bereits mit 2 Jahren die Töne beim Singen erstaunlich gut trifft. Gesungen hat sie seither eigentlich immer, und wo immer eine Bühne stand, ist sie draufgeklettert. Sie lernt Blockflöte und Akkordeon und bringt sich später das Gitarren- und Klavierspielen selber bei. Mit 13 spielt sie in ihrer ersten Rockband mit dem Namen «Punk‘d», singend am Mikrofon natürlich, steigt dann später beim Vater zunächst als Background-Sängerin ein und  singt sich nach und nach nach vorne. Ihre Ausstrahlungs- und Stimmkraft scheint auch dem Bandleader der Cover- und Partyband Down Town Group nicht entgangen zu sein und er engagiert die junge Selina glattweg zur neuen Leadsängerin. Selina befindet sich da gerade in der Ausbildung zur TOA. Dem Vater zu erklären, dass sie nun in einer neuen Band mitspiele und zwei Engagements während der Ausbildung doch etwas viel seien, bringt sie dann doch nicht übers Herz. Und so singt sie fortan in zwei Formationen und erweitert ihr Lied und Genre-Spektrum immer weiter. Woher Selina diese Energie und Power bezieht, weiss nur sie selbst. Es ist erstaunlich. Dass sie seit gut einem Jahr auch noch beim Bigband-Orchester Flughafen Zürich mitswingt und singt, ist der nächste Höhepunkt in ihrer bisherigen Gesangskarriere.

Im Operationssaal sind natürlich nicht ihre stimmlichen Qualitäten gefragt, obwohl das Timing, d.h. genau zu wissen, zu welchem Zeitpunkt welches Instrument zum Einsatz gelangen wird, eine wichtige Voraussetzung ihrer Arbeit ist. Und auch das Teamplay im OP, das Selina so schätzt, zeigt durchaus Parallelen zur Musikwelt. Andere an ihren Fähigkeiten teilhaben lassen, beweist Selina auch mit ihren regelmässigen Einsätzen für die Hilfsorganisation Peedh Parai International. Einmal jährlich unterstützt sie als TOA während zwei Wochen ein Chirurgenteam in indischen Kinderspitälern. Eine grosse Stimme und ein grosses Herz wurde ihr in die Wiege gelegt.

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Redaktor/Stv. Mediensprecher

Nach langjähriger Tätigkeit als Lehrer, Korrektor, Redaktor und Verlagsleiter ist Ralph Schröder seit 2011 ein engagierter und bedachter Texter für das KSA, der es jederzeit versteht, dem geschriebenen Wort Verständnis und Sinn einzuimpfen.