Lesedauer: 2 minutes

Schröders Alternativmedizin: Die Placebologie

Ralph Schröder, 21.03.2019
Vorschaubild
Wissenswertes aus der Welt der Paramedizin. Eine Glosse

Es ging ein Aufschrei durch die medizinische Fachwelt, als vergangenen Herbst das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» einen Artikel mit dem Titel «Das Placebo-Wunder – die Heilkraft des Wirkungslosen» veröffentlichte und sich dabei auf Studien des sagenumwitterten Paramediziners Dr. Chun Yung-miung berief, die zur Behandlung von Schwindel und für bestimmte Neuropathien die reine Gabe von Placebo-Medikamenten propagieren. Die brüskierte Fachwelt sprach von einem Frontalangriff auf die evidenzbasierte Medizin, von «Fake-Medizin» war die Rede, und aus Pharma-Kreisen war zu hören, dass juristische Klagen sowohl gegen Chun Yung-miung selbst als auch gegen das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» erwogen würden. Die Debatten um den seit Langem umstrittenen «Placebo-­Effekt» in der Medizin sind auf jeden Fall neu entbrannt.

Der in den USA im Exil lebende Nordkoreaner Chun Yung-miung hatte Ende der 1990er-Jahre mit seiner Hauptschrift «Die Wirkkraft des Wirkungslosen» (im Original: «The Effects of Ineffectiveness») kurzzeitig für Furore gesorgt, geriet dann jedoch in Vergessenheit, nachdem ihm wegen missbräuchlichem Umgang mit wissenschaftlichen Daten zunächst die Approbation als Arzt und später auch der Titel der Harvard University entzogen wurden.

«Die Wirkkraft des Wirkungslosen»

Wie Recherchen des «Spiegel» zeigen, hat Chun Yung-miung seine Forschungen jedoch auf dem Gebiet der Placebologie, wie er seinen neuen Wisenschaftszweig nennt, auf den Kayman-Inseln fortgesetzt und letzten Herbst am University College of the Cayman Islands diverse Studien mit teilweise frappanten Resultaten veröffentlicht.

Yung-miungs Studienmethode ist dabei verblüffend einfach: Durch Meta-Analysen bereits bestehender placebokontrollierter, randomisierter Doppelblindstudien filtert er jene heraus, bei denen die Ergebnisse der Placebo-Gruppe die gleiche oder ähnliche Wirkung zeigen wie die Gruppe, welcher der erfolgversprechende neue Wirkstoff verabreicht wurde. Brisant dabei ist vor allem, dass Yung-miung auch nicht veröffentlichte Studien in seine Meta-Analysen mit einbezieht. Vorspiegelung und Missbrauch von Wahrheit lautet das Verdikt der Fachwelt. Yung-miung kontert via Twitter: «Ich spiegle die Wahrheit nur und ziehe daraus Schlüsse. Die Evidenz fusst nicht allein auf Effizienz. Das gilt für alle Lebensbereiche.»

Alle bisherigen Versuche, Chun Yung-miung in der Steueroase Cayman Islands ausfindig zu machen, sind im Übrigen gescheitert. Seine Studienergebnisse blieben bisher wirkungslos. Effekthascherei, Spiegelwischerei sagen die einen, reine Gefallsucht die anderen. Placebo bedeutet wortwörtlich «Ich werde gefallen». Das Placet für die Placebologie auf jeden Fall steht noch aus. Spiegel hin oder her.

Autor*in

Profile picture for user rschroeder
Redaktor/Stv. Mediensprecher

Nach langjähriger Tätigkeit als Lehrer, Korrektor, Redaktor und Verlagsleiter ist Ralph Schröder seit 2011 ein engagierter und bedachter Texter für das KSA, der es jederzeit versteht, dem geschriebenen Wort Verständnis und Sinn einzuimpfen.