Reorganisation im Notfall – «Ich möchte, dass es fliesst»
Die Notfallstationen sind schweizweit chronisch überlastet. Die stete Zunahme von Notfallpatientinnen und -patienten und der Fachkräftemangel werden dafür als Hauptgründe genannt. Wie sieht es aktuell diesbezüglich am Standort KSA Aarau aus?
Ja, auch wir spüren den Fachkräftemangel deutlich. Die Rekrutierung gestaltet sich sowohl im Pflege- als auch im Arztdienst schwierig: Die Arbeit auf dem Notfall erfordert Höchstleistungen im 24-Stunden-Betrieb, je nach Tag und Patientenandrang kommt man kaum zu einer Pause. Die Arbeit ist absolut faszinierend, aber man muss auch die Leute finden, die genau das mögen. Sehr viele Notfallstationen sind aktuell auf Personalsuche. Hinzu kommt, dass sich die Anzahl der Notfallkonsultationen am Standort KSA Aarau in den letzten 20 Jahren mehr als vervierfacht hat. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen suchen die Leute immer niederschwelliger eine Notfallstation auf; die Covid-19-Pandemie hat diese Tendenz noch verstärkt. Zum andern tragen auch der notorische Hausarztmangel ebenso wie das stetig wachsende Durchschnittsalter der Bevölkerung zu dieser Zunahme bei.
Die Reorganisation des Zentrums für Notfallmedizin (ZNM) KSA Aarau ist eines der aktuell wichtigsten Spitalprojekte. Was sind die Eckpunkte der geplanten Reorganisation? Wo soll die Reise hingehen?
Der wichtigste Eckpunkt ist, dass der Notfall interdisziplinärer werden soll und im Notfallzentrum ein ärztliches Kernteam aufgebaut wird. Aktuell wird je nach Beschwerde des Patienten oder der Patientin jeweils ein anderes Behandlungsteam oder die entsprechende Fachklinik für die Behandlung hinzugerufen. Bei der aktuell wachsenden Zahl an Patienten müssen dabei immer mehr Fachkliniken auf dem Notfall präsent sein, wobei sich jede berechtigter weise auf die Problematik ihres Fachgebietes konzentriert . Da sich Patientinnen und Patienten oft mit mehreren Problemen vorstellen, kann dies zu langen Aufenthaltszeiten und Stau führen. Ziel muss deshalb sein, dass jeweils ein fixes Notfallteam die Patientinnen und Patienten – unabhängig von ihrer Problematik – nach Schweregrad beurteilt und die Erstbehandlung sicherstellt. Des Weiteren sollen neue Strukturen im Zentrum für Notfallmedizin aufgebaut werden, die bisher gefehlt haben. Es gab bspw. bisher keine einheitliche Personalpolitik, keine eigene Dienstplanung, keine interne Weiterbildungsmöglichkeiten; das Berichtswesen ebenso wie auch die Leistungserfassung waren uneinheitlich. Mit dem Auf bau eines ärztlichen Kernteams sollen diese Strukturen neu geschaffen werden, um eine Stabilität nach innen und nach aussen zu vermitteln.
Was hat sich seit Ihrer Übernahme der Leitung Notfallmedizin bereits verändert? Wo stehen Sie im aktuell laufenden Reorganisationsprozess? Welche Rolle kommt dabei der Notfallpflege zu?
Wir konnten bereits erfolgreich einige neue Kaderärztinnen und -ärzte, Assistenzärzte sowie auch Unterassistentinnen für das Kernteam rekrutieren, die sich ins breite Gebiet der Notfallmedizin einarbeiten. Dafür haben wir ein strukturiertes Einarbeitungsprogramm sowie ein Tutorensystem aufgebaut. Neben der Anerkennung als Weiterbildungsstätte SGNOR Kategorie 1 haben wir vor Kurzem auch die provisorische Anerkennung zur Weiterbildung Kategorie IV für die ambulante Allgemein-/ Innere Medizin erhalten. Dafür haben wir ein Weiterbildungscurriculum aufgebaut, was im Schichtdienst immer eine Herausforderung darstellt. Die Dienstplanung wurde neu aufgebaut, die Zusammenarbeit mit verschiedenen Schnittstellen ist im Neuaufbau, die Leistungsabrechnung wurde umgestellt und vieles mehr ist am Laufen – es bleibt also spannend.
«Ich bin eine grosse Verfechterin der interdisziplinären Notfallmedizin.»
Die Rolle der Notfallpflege ist für jede Notfallstation absolut elementar. Die Notfallpflege KSA Aarau ist ein hoch ausgebildetes und kompetentes Team, das trotz dem allgemeinen Fachkräftemangel als stabilstes Pflegeteam des gesamten Spitals dasteht. Die Notfallpflege soll durch den Aufbau des ärztlichen Kernteams verbindlichere Ansprechpartner in der Patientenbetreuung bekommen, unabhängig von der Tageszeit oder der Problematik des Patienten. Die Arbeit am Patienten oder der Patientin ist immer eine Teamarbeit zwischen Ärzteschaft und Pflegenden des Notfalls. Diese Teamarbeit soll gestärkt werden.
Neu werden im ZNM auch Fachärztinnen und Fachärzte für Notfallmedizin ausgebildet, die Notfallmedizin ist mit neuen Kaderärztinnen insgesamt gestärkt worden. Wie wichtig war und ist dieser Schritt?
Dieser Schritt ist der Kernpunkt aller Neuerungen. Ich bin eine grosse Verfechterin der interdisziplinären Notfallmedizin. Für mich heisst das: Wir stehen bereit, egal, ob ein Patient oder eine Patientin einen Herzstillstand erleidet oder sich wegen seiner/ihrer seit drei Monate bestehenden Knieschmerzen um4.00Uhr morgens Sorgen macht. Zwar verfügt die Notfallmedizin noch über keine Facharztanerkennung, sondern ist vorerst «nur» eine interdisziplinäre Schwerpunktausbildung. Das ist schweizweit ein grosser Diskussionspunkt, denn durch das ständige Patientenwachstum auf den Notfallstationen braucht es eine facheigene, breite Expertise, die speziell erlernt werden muss. Wir sind deswegen mit Hochdruck daran, ein breit gefächertes Ausbildungscurriculum am ZNM aufzubauen. Es ist jedoch keineswegs so, dass der Notfallmediziner oder die Notfallmedizinerin immer alles selber kann und damit nicht mehr auf die anderen Fachkliniken angewiesen wäre. Ganz im Gegenteil: Zu einer interdisziplinären Betreuung gehört die enge Zusammenarbeit mit den Fachspezialistinnen und -spezialisten, um den Patienten in jedem Fall gerecht zu werden. Das Notfallteam soll jedoch als erster Kontakt immer vor Ort sein. Die schweren Fälle werden sofort durch das Team vor Ort behandelt. Bei leichteren Fällen gilt es zu erkennen, was dringlich ist und was weniger, was eine sofortige weitere Abklärung benötigt oder was im Rahmen einer speziellen Sprechstunde durch den jeweiligen Fachmediziner in Ruhe weiterbehandelt werden kann. Dafür sind gute Abmachungen mit den Schnittstellen wichtig, um die weitere Betreuung sicherzustellen.
«Ein Notfallzentrum ist immer auch eine Visitenkarte des Spitals. Und genau das sehe ich als unser Ziel: dass wir als Visitenkarte des Spitals wahrgenommen werden.»
Was sind Ihre persönlichen Ziele, die Sie sich als neue Chefärztin des ZNM gesetzt haben? Welche Vision haben Sie für das ZNM KSA Aarau, auch mit Blick auf den Neubau Dreiklang?
Ich möchte, dass es fliesst. Ein Notfallzentrum ist immer ein Knotenpunkt: Wir fangen viele Ansprüche, Ängste, Sorgen und teils auch Aggressionen von Patienteninnen und Patienten ab. Wir sind zuständig für die Kommunikation nach aussen, mit den Zuweisenden, mit dem Rettungsdienst, mit diversen anderen Spitälern, wie auch nach innen, mit den Spezialkliniken und Abteilungen verschiedenster Stationen. Notfallärzte und -pflegende sind aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt. Unruhe und Unvorhersehbarkeit prägen unseren Alltag, und das mögen wir so. Eine gute Kommunikation, Teamarbeit und Respekt sind für die Bewältigung der täglichen Herausforderungen absolut unerlässlich. Ich persönlich liebe meine Arbeit sehr und habe am KSA ein hoch motiviertes Team angetroffen, was mich riesig freut. Die aktuellen Umstellungen und Neuerungen fordern jedoch auch viel Kraft und Toleranz. Vor dem Umzug in den Neubau habe ich grossen Respekt. Das wird eine Herausforderung für alle. Die neuen Abläufe und Strukturen sollen sich deshalb in nächster Zeit so gut wie möglich festigen. Ein Notfallzentrum ist immer auch eine Visitenkarte des Spitals. Und genau das sehe ich als unser Ziel: dass wir als Visitenkarte des Spitals wahrgenommen werden.
Sie bilden aktuell das Leitungsteam im Zentrum für Notfallmedizin (im Bild von links nach rechts):
- Dr. med. Sonja Guglielmetti, Chefärztin seit Oktober 2022
- Petra Tobias, Leitung Pflege Notfallmedizin, seit 2007 im KSA tätig (u.a. Präsidentin des Verbandes Notfallpflege Schweiz)
- Dr. med. Sarah Rickenbacher Frey, seit Januar 2023 Leitende Ärztin ZNM (Schwerpunkte u.a. Sonografie, Master of Medical Education, Aus- und Weiterbildung Assistenzärztinnen und -ärzte), sowie
- Dr. med. Susanne Burgemeister, seit 2011 im KSA Aarau, seit Oktober 2022 Leitende Ärztin ZNM (Schwerpunkte: Leitung Notfallpraxis, Aus- und Weiterbildung Assistenzärztinnen und -ärzte)